Sonntag, 9. Oktober 2011

Die Welt ist hart; der Mensch härter

Der schlechte Küsser hat sich in mich verliebt. Oder er war dabei, sich zu verlieben. Er kommt aus Afghanistan, sein Deutsch ist verbesserungswürdig und ich war die erste Österreicherin, die er geküsst hat. Nun haben sich die Anzeichen gehäuft - die Anzahl der Anrufe hat sich verdoppelt, die der SMS ebenso. Die Inhalte haben sich von lieben Grüßen zu "Dein A." gewandelt.

Bei mir hatte sich allerdings nichts getan - ich fühlte nichts. Meine erste Reaktion war der Rückzug, ich achtete darauf, beim Facebook-Chat nicht online zu sein, hatte "leider keine Zeit zum Telefonieren" und dachte, vielleicht würde es so abflauen. Typisch.

Dann kam die SMS: Kannst du mir bitte sagen, was passiert ist? Wenn ich etwas falsch gemacht habe, tut es mir leid. Ich bin auch nur ein Mensch. Nochmal es tut mir wirklich leid. Bitte melde dich. Lg.

Und spätestens da wusste ich, dass ich ihm weh tun muss. Ich hatte mich aus mehreren Gründen dazu entschieden, ehrlich und direkt mit ihm zu sein:
  • Kulturell gesehen gibt eine große Kluft hinsichtlich von Normalitäten. Er hatte sich allerdings wie ein perfekter Gentleman verhalten und ist mir wirklich mit großem Respekt begegnet. Ihm gebührte derselbe Respekt und auch Ehrlichkeit.
  • Ich habe im Zuge dessen darüber nachgedacht, wie ich normalerweise in solchen Situationen handle, und mich entschlossen, nicht so hinterfotzig und feige zu sein, wie ich es zu oft schon war.
  • Gerade nach meinem Signale-Girl weiß ich genau, wie es ist, wenn jemand weiß, dass du etwas für ihn/sie fühlst, und es einfach konstant ignoriert und dich aufwärmt und warmhält, nur um letztendlich einen auf Ahnungslos zu machen.
Also musste ich auch meine Worte seinem Sprachniveau anpassen. Dementsprechend war es einfach, nahezu banal, und dementsprechend hart. Und ich habe ein riesiges schlechtes Gewissen.


Hätte ich feige reagiert, hätte ich es einfacher gehabt: Auf "Dein A." einfach mit Inhalts-SMS, nicht aber mit "Deine T." reagieren. Auf Liebesbekundungen mit "Ja, es war echt lustig/schön!" und auf Küsse mit Bussis reagieren. Die Sache weiterlaufen lassen, aber kaum / nie Zeit haben - "leider".

Wirklich, es wäre nahezu einfach. Wenn ich nicht endlich den gesunden Respekt dafür entwickelt hätte, Menschen ehrlich genug gegenüberzutreten; selbst, wenn es ihnen oder mir weh tut. Und in diesem Fall ist es beides:


Es tut mir schrecklich leid. Obwohl es vielleicht auch keine große Sache für ihn ist. Es tut mir aber auch schrecklich leid für alle jene, bei denen ich zu feige für Ehrlichkeit war. Ehrlichkeit ist in diesen Fällen vielleicht hart,

aber wir Menschen sind ja offenbar hart genug, härter sogar, um lieber schleifen zu lassen, im Graunebel zu leben und zu nicht-lieben, zu ent-lieben.



Das habe ich beim Verfassen dieses Eintrags gehört.

1 Kommentar:

timi hat gesagt…

ein sehr schweres Thema mit dem ich mich auch gerade auseinandersetzt, nachdem "JETZT" gerade in mein Leben getreten ist.

die Frage ist doch: wie viel Ehrlichkeit verträgt ein Mensch und wann ist sie nur "Ausrede" um bzw. ein nettes Gut, das man verwendet um sich schwierigere Fragen nicht stellen zu müssen.

Im Moment bin ich für grenzenlose Ehrlichkeit. "JETZT" macht das auch nötig, denn sie IST einfach total ehrlich.

Ich finde es gut, dass es Dir leid tut. Das macht dich menschlich und emotional. Was wäre man/ Wäre man noch ein "Mensch", wenn es einem egal ist ob das Gegenüber leidet..

Ich glaube nicht.
timi